Die Welt vergaß die polnischen Kriegsopfer

In vielen Personenkreisen wird das Erinnern an die Leiden der Polen für Taktlosigkeit, unzureichende Kenntnis bzw. Unterordnung unter die polnische Propaganda gehalten.

Interview mit Prof. Wanda Jarząbek vom Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Forschungsschwerpunkt u.a. Deutsch-polnische Beziehungen im 20. Jahrhundert.

Polen ist der Staat, der während des Zweiten Weltkriegs den höchsten Preis bezahlte. Warum geriet dies so bald in Vergessenheit?

Gleich nach dem Krieg, aber noch in den 1960er Jahren, erinnerte man sich sehr gut an die polnischen Kriegsopfer und Polen wurde als ein Land angesehen, das durch den Krieg sehr schwer getroffen worden war. Seit dem Ende der 1960er Jahre begann sich dies jedoch zu ändern, dauerte in den 1970er an und nahm in den 1980er Jahren zu. Inzwischen hatte sich weitgehend die Geschichtspolitik Israels, das die Holocaustopfer nicht mehr als diejenigen betrachtete, die über ihren Tod freiwillig entschieden, ohne den Mut gegen diesen anzukämpfen, sondern begann darüber zu sprechen, wie sehr diese Opfer leiden mussten. Man begann auch die Helden zu schätzen, die Aufstände organisierten, z.B. den Aufstand im Warschauer Ghetto. Zu diesem Thema entstanden  zahlreiche Filme, sowohl Dokumentar- als auch Spielfilme. Die Frage nach dem Holocaust hielt Einzug in alle Geschichtslehrbücher. Ebenfalls in Deutschland fand damals eine deutliche Veränderung in der Wahrnehmung der Vergangenheit statt. In die Politik, Medien, Schulen und an die Unis kam auch die dritte Generation, die bereits nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde und sprach immer öfter darüber, dass auch die Deutschen gelitten hatten. Man sprach sehr viel von den deutschen Opfern des nationalsozialistischen Regimes sowie von den Deutschen, die Opfer der Politik der Alliierten wurden. Von den 1950er Jahren an wurden in der BRD Erinnerungen von Personen gesammelt, die die ehemaligen deutschen Gebiete im Osten verlassen mussten, infolge von Evakuierung, Flucht vor der Roten Armee, wilden Vertreibungen bzw. Überführungen aufgrund der Beschlüsse seitens der Siegerstaaten. Es ist inzwischen das Wort „Vertreibung” üblich geworden, das sehr emotional belastet ist. Es wurde normalerweise nicht daran erinnert, dass die „Überführung“  durch die Großen Vier , im Potsdamer Abkommen entschieden  worden war, von dem drei Staaten nach dem Krieg zu Verbündeten der BRD wurden. Schließlich wurde immer mehr von Zivilisten und zufälligen Opfern der Bombardierungen und Flächenbombardements gesprochen.

In Polen indessen, wo die kommunistischen Behörden regierten, wurde vom Krieg am häufigsten sehr ideologisch gesprochen. Wegen des sog. Kalten Kriegs und der Zugehörigkeit der Volksrepublik Polen (PRL) zum Ostblock erfuhren die in Polen durchgeführten Geschichtsforschungen nie eine größere wissenschaftliche Verbreitung. Polnische Filmproduktionen und Literatur waren nur in geringem Maße in der Welt bekannt. In den 1990er Jahren konzentrierte sich die Geschichtsforschungen auf Themen, die früher verboten waren, d.h. auf das Schicksal der Polen im Osten  (unter Sowjetischer Besatzung) . Es wurde jedoch übersehen, dass die Polen nicht als Opfer des Dritten Reiches, sondern allmählich als Zuschauer oder sogar Mittäter angesehen wurden sowie als Personen, die aus dem Schaden der Mitmenschen materiellen Vorteil hatten, d.h. von Holocaustopfern und aus Vertreibungen. Während wir also stumm blieben, erhielten die Leute im Westen in Schulen, aus Filmen und Massenmedien ein ganz anderes Bild der Vergangenheit.

Wie wird heute die Rolle Polens während des Zweiten Weltkriegs weltweit gesehen?

Im Westen besteht oft das Missverständnis, dass Polen sich gern in der Opferrolle sehen, sie waren mittlerweile, nach allgemeiner Ansicht, vor allem Mittäter. In vielen Personenkreisen wird das Erinnern an die Leiden der Polen für Taktlosigkeit, unzureichende Kenntnis bzw. Unterordnung unter die polnische Propaganda gehalten. Polen sei daher für viele Personen keineswegs das erste Kriegsopfer, sondern ein Staat, der sich irgendwie an der verbrecherischen Politik der Deutschen beteiligte. Wir wurden als ein Volk angesehen, das sich eigentlich gegen die Deutschen kaum gewehrt hatte und mit den ideologischen Überzeugungen des Dritten Reiches, wie Antisemitismus, bzw. Ablehnung der parlamentarischen Demokratie übereinstimmte. In vielen Geschichtsbüchern wird Józef Piłsudski in dieselbe Reihe mit autoritären Herrschern oder Diktatoren (wie z. B. Hitler, Mussolini) gestellt. Es ist die Rede vom polnischen Faschismus, wozu ebenfalls die Kommunisten beitrugen, die alle politischen Gegner so nannten. Im Westen ist die Rede von Polen, die mit Deutschen zusammenarbeiteten, die echten Kollaborateure Deutschlands, wie z. B. Letten und Ukrainer, die in separaten nationalen Militäreinheiten organisiert waren, werden jedoch oft vergessen.

Warum verfehlt dieses Bild so klar die Tatsachen?

In den westlichen Ländern wird bei der Schulbildung Polen fast komplett übersprungen und die Vorstellungen vom Krieg basieren oft nicht auf zuverlässiger Kenntnis, sondern auf Informationen aus der Massenkultur. In Letzterer tauchen viele Mythen über unser Land auf. Auch in Dokumentarfilmen, wie z. B. dem berühmten „Shoah“, wo die Polen als Menschen gezeigt werden, die von der Vernichtung der Juden profitierten, da sie z.B. deren Häuser bewohnten.

Darüber hinaus wurde das sog. Rivalisieren ums Leiden auf eine ganz andere Ebene gehoben. Es wird oft nicht von den harten Fakten, sondern von unterschiedlichen Narrationen gesprochen, die auf Erinnerungen der Zivilisten basieren. Die Erzählungen der Kriegsopfer werden eigentlich gleichbehandelt, denn Leiden wird von den Menschen ähnlich wahrgenommen – unabhängig davon, ob sie das Volk betreffen, das die Kriegsverbrecher gebar, oder das Volk, das zum Opfer ihres Angriffs wurde.

Deswegen wird es immer schwerer für uns, sich mit unserer Erzählung über den Zweiten Weltkrieg durchzusetzen.

Die Veränderung dieses verzerrten, meistens negativen Bildes von Polen ist selbstverständlich möglich, erfordert jedoch harte und beharrliche Arbeit. Inzwischen müssen wir sagen, dass immer noch nicht viel getan wird. Es bleiben sogar in den Hochschulkreisen viele nicht korrigierte, falsche Darstellungen bestehen. Im Westen erscheinen immer noch Bücher und andere Veröffentlichungen über Polen, die auf vereinfachte Art und Weise die Einstellungen der Polen während des Krieges darstellen. Ich vermisse dagegen Rezensionen von polnischen Autoren, die Stellung zu diesen Veröffentlichungen nehmen. Überdies kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Geschichtsunterricht in polnischen Schulen sich hinsichtlich des Unterrichtsprogramms an die Prioritäten der im Westen herausgegebenen Geschichtsbücher orientiert.