Lassen wir die Opfer zu Wort kommen

Unser Hauptprojekt sind „Die Aufzeichnungen des Terrors” (polnisch „Zapisy terroru”). Mit diesem Projekt bezwecken wir, die europaweit größte Datenbank mit Berichten und Zeugnissen von Zeitzeugen zu schaffen. Wir möchten die Opfer und ihre Nächsten und Nachkommen zu Wort kommen lassen

Ein Gespräch mit Anna Gutkowska, der geschäftsführenden Direktorin des Witold-Pilecki-Zentrums für Forschungen  über Totalitarismen

 Zu welchem Zweck wurde das Zentrum ins Leben gerufen?

Das  Zentrum soll zum Nachdenken über polnische Erfahrungen mit der Konfrontation mit zwei totalitären Systemen anregen.  Es wurde gegründet, um das Wissen über das tragische Schicksal Polens im 20. Jahrhundert bekannt zu machen sowie es erfolgreich in die Weltgeschichte mit einzubeziehen. Wir arbeiten interdisziplinär, d.h. wir möchten eine Brücke zwischen Wissenschaft und Kultur schlagen. Unser Ziel ist es, kulturgeschichtliche Projekte, die sich auf  Ereignisse des vorangegangenen Jahrhunderts beziehen, aus der Taufe zu heben und zu unterstützen. Unsere Tätigkeit konzentriert sich vor allem darauf, die totalitären Verbrechen zu dokumentieren, die dokumentierten Materialien  ins Englische, die heutige „lingua franca”, zu übersetzen sowie die Quellentexte dem breiten Publikum zugänglich zu machen. Mit dem breiten Publikum meine ich u.a. Meinungsführer im In- und Ausland.

Welche Projekte werden zurzeit vom Zentrum durchgeführt?

Unser Hauptprojekt sind „Die Aufzeichnungen des Terrors” (polnisch „Zapisy terroru”). Mit diesem Projekt bezwecken wir, die europaweit größte Datenbank mit Berichten und Zeugnissen von Zeitzeugen zu schaffen. Wir möchten die Opfer und ihre Nächsten und Nachkommen zu Wort kommen lassen. Ohne Zweifel steht uns ein schwieriges Unterfangen bevor, denn wir verfolgen das Ziel, mit der gesammelten Dokumentation die wichtigsten polnischen akademischen Zentren, Bibliotheken und Medien zu erreichen. Das ist eine enorm wichtige Aufgabe – wir beabsichtigen, dass die gegründete Datenbank als  Forschungsquelle  weltweit benutzt wird. Eine Forschungsquelle, an der kein Wissenschaftler bei seinen Recherchen und Publikationen – sowohl aus moralischen als auch aus methodologischen Gründen –  gleichgültig vorbeigehen könnte. Auf der Website zapisyterroru.pl  sind schon über 800 Dokumente zugänglich. Die Hälfte davon wurde bereits ins Englische übersetzt. Und ab 2017 wird für die Interessierten eine funktionsreiche Web-Schnittstelle auf Englisch zur Verfügung stehen.

Des Weiteren organisieren wir Konferenzen, darunter auch solche, die einen internationalen Charakter haben, wie das im November dieses Jahres der Fall war. Die damals stattgefundene Konferenz, deren Teilnehmer renommierte  Juristen waren, haben wir der Problematik der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewidmet, die im deutsch besetzten Polen verübt worden sind. Wir beleuchteten sie näher am Beispiel des Massakers vom Warschauer Bezirk Wola von 1944, das zu einem der grausamsten Massaker an der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg zählt. Ein wesentlicher Teil unserer Arbeit ist die schon vorher erwähnte edukative Tätigkeit. Mit dem Film „Wolhynien” (polnisch „Wołyń”) in der Regie von Wojciech Smarzowski begannen wir neulich das Projekt „Bilder der Geschichte” (polnisch „Obrazy historii”). In seinem Rahmen werden Streifen gezeigt, die die wichtigsten Ereignisse unserer Geschichte thematisieren, sowie Diskussionen geführt, an denen sich Autoren, Historiker und das Publikum beteiligen. Die Resonanz auf „Wolhynien” war riesengroß. Der Kinosaal platzte aus allen Nähten, es kamen ca. 500 Personen und – was mich sehr gefreut hat –  unter den Zuschauern waren viele junge Leute.

Wie sehen Sie die Rolle des Zentrums bei der Frage, deutscher Kriegsverbrechen in Polen zu gedenken? Können auch ehemalige deutsche Lager, die zu verschiedenen Gedenkstätten wurden, diese  Aufgabe erfüllen?

Die Gebiete der ehemaligen Lager haben einen durchaus symbolischen Charakter. In den meisten Fällen sind sie Grabstellen von Abertausenden von Opfern des Dritten Reiches, eine Art schockierender Denkmäler der Bestialität. Sie stellen aber auch materielle Spuren und Beweise des Völkermordes, der Verbrecher gegen die Menschlichkeit und der Negation der humanistischen Errungenschaften sowie der abendländischen Kultur dar. Sie bezeugen darüber hinaus den moralischen Verfall der Täter. Diese Orte sind eine Warnung – ein Warnsignal für die nächsten Generationen.

Unser Zentrum beschäftigt sich mit dem Festhalten und Bekanntmachen der komplizierten und tragischen Schicksale unserer Bürger und ihrer Nachkommen. Wir hoffen, dass die Weltöffentlichkeit dank der englischen Translation diese Erfahrungen endlich teilen wird. Es ist kein falsches Pathos, wenn ich sage, es ist höchste Zeit dafür. Deshalb arbeiten wir an der Webseite chronicleofterror.pl.

Von wem kam die Initiative, das Zentrum zu gründen?

Die Gründung unseres Zentrums war die Krönung der Bemühungen seiner Initiatorin, Frau Professor Magdalena Gawin, der Untersekretärin im Ministerium für Kultur und Nationalerbe. Anlässlich der Feierlichkeiten zum Auftakt des Projekts „Die Aufzeichnungen des Terrors” war u.a. die Familie Pilecki, des Patrons unseres Zentrums, zugegen – seine Tochter Zofia Pilecka-Opułtowicz und sein Sohn Andrzej Pilecki.  Anwesend war auch sein Neffe – Professor Edward Radwański samt Gemahlin. Witold Pilecki bleibt bis heute der größte Held des polnischen Untergrunds, ein Mensch von außergewöhnlichen Eigenschaften und beispielloser Tapferkeit. Er ist ein Symbol der Solidarität mit Opfern und des tragischen Kampfes gegen zwei totalitäre Systeme, das nationalsozialistische und das kommunistische. In diesem Sinne ist seine Person die ideale Figur für unsere Einrichtung. Unsere Mission besteht darin, harte Tatsachen über das 20. Jahrhundert, das nicht ohne Grund das Jahrhundert der Totalitarismen genannt wird, weltweit bekannt zu machen. Wir bemühen uns, den Stempel, den es Polen und seinen Bürgern aufgedrückt hat, zu zeigen. Insbesondere geht es uns dabei um zivile Opfer des deutschen und sowjetischen Regimes. Es ist die Zeit dafür gekommen, dass man uns  hört.