Wir müssen ein System der „Entlügung” der Geschichte schaffen

Profesor Andrzej Nowak
Foto Krzysztof Sitowski

Wir sollten versuchen, uns auf dem „Markt der historischen Narrationen” zu behaupten und uns dort mit dem wahren Bild des Zweiten Weltkrieges durchzusetzten. Wir sollten das polnische Heldentum in Erinnerung rufen, unseren beispiellosen Entschluss, uns dem deutschen und  dem ihn unterstützenden sowjetischen Totalitarismus widersetzt zu haben.

Ein Gespräch mit Professor Andrzej Nowak, dem Leiter des Instituts für Geschichte Osteuropas an der Jagiellonen-Universität.

Warum benutzen ausländische Medien so oft die Formulierung »polnische Todeslager«?

Es gibt drei Hauptgründe dafür. Der erste Grund liegt in der Ignoranz der westlichen Gesellschaften, die sich für die Geschichte unserer Region nicht interessieren. Das dürfen wir ihnen aber nicht verübeln, sondern versuchen, die Wissenlücken durch edukative Handlungen auszufüllen. Am effektivsten tut das einfach die Massenkultur.

Der zweite Grund ist die Arroganz. Ein Überlegenheitsgefühl von einem Teil der westlichen Eliten, die überzeugt sind, im Osten würden minderwertige Menschen, gar Barbaren wohnen. Sie glauben fest an Folgendes: hätten die Deutschen in England oder in den USA ihre Lager errichten lassen, dann hätten alle Engländer und Amerikaner unter Lebensgefahr ihre jüdischen Nachbarn verteidigt. Und was hat der osteuropäische Pöbel gemacht? Sie voller Eifer in die Hände der deutschen Besatzer ausgeliefert. Solche Überzeugungen sind eine Form von Rassismus, gegen den man kämpfen muss.

Zum Schluss gibt es den dritten Grund. Wegen diesem Grund lässt sich gegen die Formulierung «polnische Lager« am schwierigsten ankämpfen. Es geht hier nämlich nicht um Stereotypen und Wissensdefizite, sondern um reale Interessen, die auf verschiedenen Ebenen zu entschlüsseln sind.

Welche Ebenen meinen Sie?

Die erste Ebene ist finanzieller Natur. Der deutsche Staat hat im Rahmen einer Einigung mit den Holocaust-Opfern gigantische Entschädigungen ausgezahlt und vorsorglich weitere finanzielle Ansprüche unterbunden. Die unersättliche Gewinngier bewirkt jedoch, dass viele Personen, die sich als ehemalige Opfer ausgeben, solche Ansprüche erheben. Diese Ansprüche richten sich an andere Völker und Gesellschaften und leider konzentriert sich diese spezifische Attacke auf Polen. Gerade auf ein Land, das – im Gegensatz zu Litauen oder der Ukraine – nie in einer organisierten Form mit den deutschen Massenmördern zusammengearbeitet hat.

Die zweite Ebene betrifft deutsche Interessen. Sie sind nicht finanzieller, sondern eher moralischer Natur. Es geht um die Entlastung der deutschen Verantwortung für den Völkermord. Um das Teilen dieser Verantwortung mit anderen Ländern. Das ist ein sehr wichtiges Ziel der deutschen historischen Politik. Damit ist ein konkretes, politisches Interesse verbunden: die Erneuerung der deutschen Dominanz in Europa und das Heraustreten aus dem langen Schatten des Zweiten Weltkrieges. Die geltende Narration lautet hier: vielleicht hätten die Deutschen doch etwas in die Wege geleitet, aber ohne die Polen hätten sie nichts gemacht.

Schließlich haben wir mit dem dritten Szenario zu tun. Damit ist die russische – vorher sowjetische – imperiale Politik gemeint. Gleich nach dem Krieg lag Moskau viel daran, der Welt zu zeigen, dass Polen und andere östliche Völker keines Mitgefühls würdig seien und nichts anderes als die Herrschaft der UdSSR verdient hätten.

Heutzutage wird diese Politik fortgesetzt. Ein gutes Beispiel dafür ist Jedwabne. Was dort passiert ist, ist  zweifellos sehr traurig und darf nicht vergessen werden. Die Jedwabne-Geschichte wurde aber durch die Propagandamaschinerie aufgebläht – im Dienste russischer Interessen. Daher mag es nicht verwundern, dass die meisten Reprints über Jedwabne in der russischen Presse zu lesen waren. Die dahinter stehende Absicht ist leicht abzulesen: Schaut, die Polen sind Massenmörder und Antisemiten. Und trotzdem maßen sie sich an, uns wegen Katyń anzuprangern und andere moralische Schuld Rußlands zu brandmarken.

Wie können wir dem erfolgreich entgegenwirken?

Wir sollten versuchen, uns auf dem „Markt der historischen Narrationen” zu behaupten und uns dort mit dem wahren  Bild  des  Zweiten  Weltkrieges  durchzusetzten.  Wir  sollten  das polnische  Heldentum  in  Erinnerung rufen, unseren beispiellosen Entschluss, uns dem deutschen und dem ihn unterstützenden sowjetischen Totalitarismus widersetzt zu haben. Die wirksamsten Mittel zu diesem Zweck sind Medien, Massenkultur sowie internationale Partner, die uns dabei – sei es des Gewinns wegen oder aus ideellen Gründen – unterstützen würden. Wir haben weltweit viele begabte Freunde, ihr Talent steht uns also zur Verfügung. Wir müssen ein sorgfältig organisiertes System der „Entlügung” der Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, schaffen. In den letzten 27 Jahren war unsere historische Politik schwach, reaktiv. Erst dann, wenn ein Problem aufgetaucht war, versuchten wir zu reagieren. Das war natürlich richtig, aber sich allein darauf zu beschränken, ist ineffektiv.

Die jetzige Regierung versichert, die historische Politik würde zu einer ihren Prioritäten zählen. Sehen Sie Chancen auf effektivere Aktivitäten im Kampf gegen historische Lügen über uns?

Die jetzige Regierung ist seit zehn Monaten am Ruder. Das ist eine zu kurze Zeit, um diese Aktivitäten  einschätzen zu können. Das wird erst in ein paar Jahren möglich sein. Aber gewisse Deklarationen nehmen schon reale Formen an, zum Beispiel das Ministerium für Kultur und Nationales Erbe besitzt jetzt mehr finanzielle Mittel für historische Filme. Ich persönlich würde es begrüßen, wenn ein Streifen á la eine Hollywood-Superproduktion über Rittmeister Pilecki, der durch seine Taten wahre Bewunderung weckt, gedreht würde.